MONTAG, 13. JULI 2015
SPORT FAZ/ FAS
Made in Sachsen
Nirgends in Deutschland bedeutet Motorradsport mehr als am Sachsenring: 90 000 Zuschauer, zwei Drittel aus der Umgebung. Der WM-Grand-Prix ist emotionales Highlight des Jahres in der Region. Von Michael Wittershagen, Hohenstein-Ernstthal
Die große Party steigt, als die Motoren unten auf der Rennstrecke längst verstummt sind und die Dunkelheit hereingebrochen ist über dem Ankerberg. Dicht an dicht stehen die Zelte auf der grünen Wiese, Bengalofeuer brennen. Bässe wummern aus den Boxen. Dazu gibt es Bier, Gegrilltes und nackte Haut. Mehr als zehntausend Fans fallen dort jeden Sommer ein, von der Westseite des Ankerbergs haben sie einen freien Blick auf den Sachsenring. Valentino Rossi, Superstar des Motorradsports, ist einmal mit dem Hubschrauber über den Ankerberg geflogen, später hat er im Fernsehen erzählt, dass es an keinem Ort im Rennkalender der Motorrad-Weltmeisterschaft verrückter sei. Für die Menschen auf dem Ankerberg ist es ein Kompliment gewesen.
Einmal im Jahr herrscht Ausnahmezustand in der Region zwischen Chemnitz und Zwickau. Mehr als einhunderttausend Fans kamen am Wochenende zum Großen Preis von Deutschland. Es ist das größte Sportereignis in der Republik – und doch ist es eines, das abseits des breiten Interesses in der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Der Motorradsport ist zu einer Randsportart geworden, noch dazu zu einer, die lediglich in Ostdeutschland die Massen elektrisiert. „Wenn du von der Rennstrecke eine halbe Stunde in den Süden nach Bayern fährst, wissen die Leute schon kaum noch etwas mit der MotoGP anzufangen“, sagt Stefan Bradl.
Am Sonntag aber saßen rund 92 000 auf den Tribünen, etwa zwei Drittel von ihnen allerdings stammen aus der näheren Umgebung. Auf ihren Autos kleben Aufkleber wie: „Ich liebe mein Erzgebirge.“ Oder: „Sachsen grüßt den Rest der Welt.“ Genau genommen, müsste das Rennen also heißen: Großer Preis von Sachsen.
Der 25 Jahre alte Bradl ist Bayer, er kam in diesem Jahr als Zuschauer zum Kurs. Vor zwei Wochen erlitt er beim Rennen in den Niederlanden einen Kahnbeinbruch, wurde danach operiert und arbeitet nun an seiner Rückkehr auf das Motorrad. Ohne ihn war beim Rennen am Sonntag kein Deutscher in der Königsklasse MotoGP vertreten. Es siegte der Spanier Marc Márquez (Honda) vor seinem Teamkollegen Daniel Pedrosa und Rossi (Yamaha). Seit 1974 hat nun schon kein Deutscher mehr das Heimrennen in der größten Kategorie gewonnen. Auch in den kleinen Klassen dominierten die anderen Nationen: In der Moto3-Klasse siegte der Brite Danny Kent, Philipp Öttl wurde Elfter; In der Moto2-Klasse setzte sich Xavier Simeon aus Belgien durch, die beiden Deutschen Sandro Cortese (11.) und Jonas Folger (14.) kamen nicht einmal unter die besten Zehn. Die Deutschen sind auf zwei Rädern nicht viel mehr als Statisten. Bradl gefällt die Entwicklung nicht, er sagt: „Man sollte sich die Frage stellen, ob in unserem Land alles richtig läuft.“
Bradl ist mit dem Fahrrad unterwegs am Sachsenring, immer wieder muss er anhalten für Autogramme und Fotos. Aber gemessen an dem, was Superstar Rossi abseits seines Jobs auf der Rennmaschine zu bewältigen hat, führt Bradl ein ruhiges Rennfahrerleben. Rossi ist inzwischen 36 Jahre alt, aber ohne ihn wäre der Sport nicht mehr derselbe. Wer überhaupt eine Art von Kleidung über seinen Tätowierungen trägt, zeigt, mit wem er sympathisiert, und der Italiener ist noch immer die Nummer eins unter den Fahrern.
„Wo geht’s denn hier ins Fohrerlogoor“, fragt ein Mann, der sich die Startnummer 46 seines Idols unter die Haut hat stechen lassen. „Wir müssen zu Rossi.“ Dort stehen sie dann, Schulter an Schulter, hinter dem Yamaha-Truck und warten. Tag für Tag, Vormittag und Nachmittag. Bis Rossi nach draußen tritt, ein paar Unterschriften auf Papiere setzt und mit Sonnenbrille, aber ohne Helm auf seinem Roller davonbraust.
Vor knapp neunzig Jahren wurde am Sachsenring das erste Rennen ausgetragen, seinerzeit noch auf einem Straßenkurs. Seine erste Hochzeit erlebte die Rennstrecke in den sechziger und siebziger Jahren, und die Geschichtchen von damals machen noch heute die Runde. 1971 etwa gewann Dieter Braun das Rennen, und zum Ärger der politisch Verantwortlichen in der DDR wurde die Hymne von Einigkeit und Recht und Freiheit gespielt – und die Menge auf den Tribünen sang voller Inbrunst mit. Seit 1998 wird nun der deutsche WM-Lauf auf dem Sachsenring ausgetragen, rund drei Millionen Euro verlangt der Rechteinhaber Dorna dafür pro Jahr drei Jahr. Der Vertag gilt noch eine weitere Saison, danach soll die Gebühr sogar auf vier Millionen Euro pro Jahr steigen.
Am vergangenen Wochenende traf sich Dorna-Geschäftsführer Carmelo Ezpeleta deshalb zu Verhandlungen mit Stanislaw Tillich (CDU), dem Ministerpräsidenten von Sachsen. Tillich weiß, wie wichtig der Grand Prix für die Region ist. Etwa 25 Millionen Euro wurden in den vergangenen Tagen dort umgesetzt. Selbst mittelmäßige Hotels können für eine Übernachtung einhundert Euro und mehr verlangen. Aus den Supermärkten werden reihenweise Bierkästen herausgetragen. Dazu sind rund 1500 Polizeibeamte im Einsatz, um die Veranstaltung zu sichern. Bis Sonntag Nachmittag registrierten sie etwa siebzig Straftaten, darunter Diebstahl, Körperverletzung und Bezahlen mit gefälschten Fünfzig-Euro-Scheinen. „Alles gut!“, sagt ein Polizeisprecher. „Hier wird eine Riesenparty gefeiert!“
Als sich die Fans ihren Weg über die Autobahnen nach Hause bahnen, stehen die Sachsen auf den Autobahnbrücken und winken ihnen hinterher.